Route Nationale 10 – Von Paris nach Biarritz
Wie die meisten Verkehrswege in Europa hat auch die Nationalstraße 10 ihren Ursprung in der Antike. Die Gallier legten hier die ersten Wege an, von denen die meisten später von den Römern übernommen wurden, um ihren Truppen den Vormarsch gegen die aufständischen Gallier zu erleichtern. Später benutzten unzählige Pilger diese Wege auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela. Die “Via Turonensis” war die meistgenutzte Verbindung der Pilger nach Spanien.
Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die ersten regelmäßigen Poststationen eingerichtet. Sie wurden im Umkreis von 15 Kilometern errichtet und ermöglichten es den Reitern, die Pferde zu wechseln und so 90 Kilometer am Tag zurückzulegen. Die Strecke Paris-Bordeaux-Spanien war eine der ersten, die mit einer vollständigen Poststraße ausgestattet wurde. Um die Reise so angenehm wie möglich zu gestalten, wurden Herbergen und Versorgungsstationen für die Pferde errichtet.
1891 fand auf dieser Strecke das erste Radrennen Bordeaux-Paris statt, das zu einem der großen Radklassiker Frankreichs wurde. 1895 fand das erste große Automobilrennen statt. Ein Fahrer gewann das Rennen Paris-Bordeaux-Paris dank der Überlegenheit der auswechselbaren Reifen der Gebrüder MICHELIN. Nach und nach wurde die Fahrbahn asphaltiert und entlang der Route Nationale 10 siedelten sich Autowerkstätten, Tankstellen, Cafés, Hotels und Restaurants an.
Ende der 1960er Jahre erlebte Frankreich eine Zeit außergewöhnlichen Wachstums und Wohlstands. Das Automobil hielt Einzug in die französischen Familien. Der bezahlte Jahresurlaub wird eingeführt und weckt den Wunsch, die Ferien in den Pyrenäen, am Atlantik oder in Spanien zu verbringen. Die Route Nationale 10 wird zur Ferienstraße! Und im Sommer zur Route der Gastarbeiter aus Spanien, Portugal, Algerien und Marokko.
Auf seiner Internetseite erinnert sich ein Freund der Route Nationale 10: “Am Abend vor der Abreise mussten wir Kinder früh zu Bett gehen, damit wir frisch und munter auf die Fahrt gehen konnten, nachdem wir den Kofferraum und die Rückbank des Autos beladen hatten. Für meine Schwester und mich blieb nur wenig Platz. Wir saßen stundenlang eingeklemmt zwischen den Gepäckstücken. Es waren 500 km, die Straße war fast immer zweispurig, selten dreispurig, und die Gefahr von Frontalzusammenstößen war mörderisch. Autofahrer auf beiden Seiten, die es kaum erwarten konnten zu überholen, liefen Gefahr, frontal ineinander zu rasen. Für die Strecke brauchte man fast einen ganzen Tag. Es gab zwar weniger Autos als heute, aber der Zustand der Straßen führte zu endlosen Staus und Verkehrsbehinderungen. Ich erinnere mich, dass wir oft auf freiem Feld anhielten und die Fahrer auf den Seitenstreifen auswichen, um sich die Beine zu vertreten. Entlang der Strecke gab es historische Staus wie in Vendôme auf der überdachten Brücke, in Montbazon oder in Sainte-Maure-de-Touraine”.
Eine Windrose auf dem Vorplatz der Cathédrale Notre-Dame-de-Paris ist der Ausgangspunkt der Nationalstraße 10. Hier, am Nullpunkt des französischen Straßennetzes, beginnt meine Reise bis weit in den Süden nach Spanien.
Anhand einer Michelin-Straßenkarte von 1963 versuche ich die alte Route Nationale 10 so gut wie möglich zu rekonstruieren. Leider weicht die heutige Streckenführung zum Teil erheblich von der damaligen ab. Und genau das macht den Reiz meiner Reisen auf den alten Nationalstraßen Frankreichs aus. Alte Streckenabschnitte finden, verlassene Tankstellen suchen, Leute treffen, die die “alte” N10 noch kennen. Und sich freuen, wenn man einen alten Wegweiser entdeckt!
Über die Porte de Saint-Cloud verlasse ich Paris gut gelaunt auf dem Boulevard Périphérique, der Stadtautobahn rund um Paris, und biege auf die Route National 10 ein. Es geht los! Ich freue mich auf meine Reise. Richtung Atlantik und Spanien.
Der Verkehr ist auch an diesem Nachmittag dicht, der erste Stau lässt nicht lange auf sich warten. Authentischer kann diese Reise nicht beginnen. In den 1960er und 1970er Jahren war die Fahrt in den Süden immer mit Staus, Wartezeiten und leider auch vielen, vielen Unfällen verbunden.
Das Schloss von Versailles ist grandios. Und total überlaufen. Ich bin an einem Samstag hier und obwohl ich mir vorsichtshalber schon eine Eintrittskarte im Internet besorgt habe, muss ich in einer langen Schlange warten, bis ich eingelassen werde. Dann noch eine Ganzkörper-Sicherheitskontrolle … und schon bin ich im Schloss, zusammen mit gefühlt einer Million anderer Besucher. Ganz so schnell geht es dann doch nicht, denn nach und nach muss ich mich von meinem Portemonnaie, dem Schlüsselbund und der Ersatzbatterie für die Kamera in den Jackentaschen trennen. Immer wieder piept das Kontrollgerät. Warum es bei meinem Ersatzschlüssel am Gürtel nicht anspringt, ist mir im Nachhinein ein Rätsel.
Das Schloss von Versailles ist die meistbesuchte Sehenswürdigkeit Frankreichs. Jedes Jahr besuchen schätzungsweise 5 Millionen Menschen das Schloss und doppelt so viele die Gärten. Und besichtigen mehr als fünf Jahrhunderte französischer Geschichte.
Die RN10 umfährt das Schloss von Versailles, bis sie hinter Trappes nach Süden abbiegt (bis dahin verläuft sie gemeinsam mit der Route Nationale 12, die in die Bretagne führt).
Die größte Sehenswürdigkeit von Rambouillet ist das Schloss aus dem 14. Jahrhundert, ansonsten hat das Städtchen nicht viel zu bieten. Und wer wie ich aus Versailles kommt, ist eben verwöhnt. Trotzdem ist das kleine Château von Rambouillet einen Besuch wert. Hochrangige Staatsgäste, die Frankreich besuchen, werden in den Nebengebäuden des Schlosses untergebracht.
Hinter Rambouillet folgt die Route Nationale 10 dem malerischen Val de la Gudville. Einzelne Weiler sind schnell passiert und schon erreiche ich Saint-Symphorien-le-Château. Hier kreuzen sich die RN10 und die Voie de la Liberté. Eine historische Route durch Nordfrankreich, Luxemburg und Belgien, die den Weg der Befreiung durch die Alliierten nachzeichnet. Die Länge beträgt 1446 km, jeder Kilometer ist mit einem Gedenkstein markiert.
Die RN10 führt nun dreispurig nach Chartres. Immer abwechselnd zwei Spuren in eine Richtung und eine Gegenfahrbahn, getrennt durch eine durchgezogene Linie. Bis Anfang der 1980er Jahre war das anders. Die mittlere der drei Spuren war für beide Fahrtrichtungen freigegeben. Und man durfte in beide Richtungen überholen … wenn kein Gegenverkehr kam. Viele, zum Teil schwere Unfälle waren zu beklagen, weil man um jeden Preis so lange wie möglich auf der mittleren Spur blieb. Ein echter Nervenkitzel.
Chartres ist berühmt für seine Kathedrale Notre-Dame, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Sie ist eine der größten gotischen Kathedralen Frankreichs. Ihre Fassade ist mit Tausenden von Skulpturen geschmückt, welche die Französische Revolution unbeschadet überstanden haben. Ich stehe mit einem Gefühl der Demut vor diesem großartigen Bauwerk.
In der Altstadt von Chartres kann man zahlreiche alte Häuser aus dem 16. Jahrhundert bewundern. Ein Spaziergang durch das ehemalige Gerberviertel entlang der Eure mit seinen Brücken und Stegen ist sehr reizvoll. Noch interessanter wird es in den Seitengassen. Dort, wo die Einheimischen leben und einkaufen, wo Katzen und Kinder herumlaufen. Wo sich außer mir heute wohl kein Tourist mehr hin verirrt.
Die RN10 ist zwischen Chartres und Bonneval noch sehr ursprünglich. Zweispurig führt sie schnurgerade nach Süden. Endlose Getreidefelder und saftige Wiesen in herrlichem Frühlingsgrün begleiten mich. Ich passiere kleine Weiler und Dörfer, wie früher führt die Straße mitten durch die Ortschaften. Es hat wenig Verkehr, denn der hat sich auf die mautpflichtige Autobahn A10 verlagert. Zur Freude der Anwohner.
Und dann komme ich nach Bonneval. Ein französisches Städtchen mitten im Nirgendwo, in das man sich sofort verlieben kann. Man nennt es auch das “Venedig der Beauce”. Schöne Häuser spiegeln sich im Loir, wer will, kann sogar eine kleine Kahnfahrt auf dem Flüsschen machen.
Ich schlendere ziellos durch das Städtchen, trinke in einer Brasserie einen Pastis und lasse Frankreich auf mich wirken. Oh, wie ich es liebe, hier zu sitzen! So viele Erinnerungen werden wach … Routes Nationales, Gauloises, Marchés, Pernot. Gerüche, Geräusche, Sprachfetzen. Art de Vivre!
Aber die Hauptattraktion ist die Abtei von Bonneval. Ja, ich habe das Schild “Accès interdit” gesehen, aber ich wollte nur einen Blick durch den Torbogen werfen … da kommt eine junge Frau aus dem Pförtnerhäuschen auf mich zugestürmt und erklärt mir unmissverständlich, was das Schild bedeutet. Puh, ist die streng. Wahrscheinlich ist sie so ungehalten, weil das Gebäude heute eine psychiatrische Klinik beherbergt und Kontakt von außen streng verboten ist.
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1967 führte die Nationalstraße 10 über die lange Rue de Varize durch Bonneval, die regelmäßig überlastet war. Erst seit 2007 wird die Stadt durch eine breite Umgehungsstraße entlastet. Man kann sich das Verkehrschaos in der heutigen Zeit gar nicht mehr vorstellen.
Hoch über dem Loir erhebt sich die mittelalterliche Burg von Châteaudun. Das Städtchen selbst besitzt noch einige hübsche Gassen mit alten Fachwerkhäusern in der malerischen Altstadt. Der Ort ist überschaubar, die Sehenswürdigkeiten sind schnell zu Fuß erreicht.
Einige bemalte Reklametafeln, kleine Garagen, verlassene Tankstellen und für immer geschlossene Restaurants zeugen von der Blütezeit der Route Nationale 10 in den 1950er bis 1970er Jahren. Von der Eröffnung der Autobahn A10 zwischen Tours und Paris im Jahr 1973 haben sich die meisten dieser Geschäfte nie wieder erholt.
Zwischen den beiden Städten Châteaudun und Vendôme verändert sich die Landschaft allmählich. Die Ebene der Beauce weicht langsam Tälern und sanften Hügeln und die Nationalstraße 10 folgt nun kontinuierlich dem Loir.
Vendôme war ein bekanntes Nadelöhr auf der N10. Im Stadtzentrum schlängelte sich die Straße durch enge Gassen und über schmale Brücken. Doch das Schlimmste kam erst noch. Die Durchfahrt durch die Porte Saint-Georges. Und das Schimpfen der Automobilisten auf die Fußgänger – und umgekehrt.
Nach der mühsamen Durchquerung von Vendôme geht es auf einer langen, recht eintönigen Geraden weiter nach Tours. Das Loire Tal ist nur noch wenige Kilometer entfernt, das milde Klima und die Ruhe der Landschaft werden immer mehr zum Erlebnis.
Ich erreiche Tours, die drittgrößten Stadt nach Paris und Bordeaux auf meiner Reise entlang der RN10.Die Route Nationale führt auf einem Plateau über der Loire in die Stadt hinein und durchquert Tours auf einer Länge von fast sieben Kilometern.
In der Stadt einen Parkplatz zu finden, ist aussichtslos, vor allem mit dem Wohnmobil. Was also tun? Auf Google Maps suche ich die Endstation der einzigen Straßenbahnlinie von Tours und fahre am nächsten Morgen dorthin. Hier am Stadtrand gibt es problemlos Parkplätze und in einer halben Stunde bin ich mit der Tram mitten in der Stadt. Perfekt.
Nach der Hektik der Stadt ist die Basilika St. Martin ein schöner Ort, um ein paar Minuten innezuhalten und die Ruhe zu genießen. Zeit für eine Meditation oder ein Gebet. Der Besuch des Grabes des Heiligen Martin ist mehr als beeindruckend.
Der Legende nach ereignete sich um 338 das, was Martin weltberühmt machte: Als berittener Soldat begegnete Martin am Stadttor von Amiens einem frierenden Bettler, dem er die mit dem Schwert geteilte Hälfte seines Mantels schenkte. In der folgenden Nacht soll ihm im Traum Christus erschienen sein, bekleidet mit dem Mantelteil: Er war es, der Martin als Bettler geprüft haben soll. Wer kennt diese Geschichte nicht aus seiner Kindheit?
Hinter Tours weitet sich die Landschaft, der Himmel hängt tief, das ganz besondere Licht des Loiretals verzaubert die Gegend. Die Rapsfelder blühen nicht mehr so leuchtend gelb, dafür zeigen sich die ersten Mohnfelder. Der Frühling schreitet voran.
Die Route Nationale 10 (die Beschilderung wechselt ständig zwischen N10 und D910, später D810) erhält ein neues, “gepflegteres” Gesicht. Und auch das erste Schild eines Vereins, der sich um den historischen Fortbestand der Route kümmert, taucht auf: “Nostal’10”. Der Verein wurde 2015 gegründet, um das Erbe und die Erinnerung an die ehemalige Nationalstraße 10 zu fördern. Auf dem Programm stehen zum Beispiel sonntägliche Treffen von Oldtimern aus den 1950er und 1960er Jahren auf dem Gelände der ehemaligen Tankstelle am südlichen Ortsausgang von Sainte-Maure-de-Touraine. Oder die Organisation geplanter Staus mit Oldtimern, ähnlich der “Embouteillage de Lapalisse” auf der Route Nationale 7.
Die Besitzer der Raststätte Les Deux Croix an der Nationalstraße 10 südlich von Sainte-Maure-de-Touraine beschlossen den Bau einer Tankstelle, die Anfang 1956 fertiggestellt wurde. Sie besaß eine bemerkenswerte, sehr moderne Architektur, deren strenge Linien von amerikanischen Tankstellen inspiriert waren. Nach dem Bau der Autobahn A10 im Jahr 1977 nahm der Verkehr auf der Nationalstraße 10 unaufhaltsam ab und die Überreste der Tankstelle verfielen schnell. Bis sich der Verein “Nostal’10” ihrer annahm. Die gröbsten Bauschäden wurden beseitigt und das Gebäude neu gestrichen. Inzwischen steht es sogar unter Denkmalschutz.
Die Nationale 10 hat gerade erst ihren 300sten Kilometer von Paris aus hinter sich gebracht … ich bin in Châtellerault angekommen. Ein unaufgeregtes beschauliches Provinzstädtchen am Ufer der Vienne. Ein kurzer Bummel, ein schneller Kaffee.
Kurz bevor die RN10 Poitiers erreicht, gelange ich zum Futuroscope, einem Freizeitpark mit eigenem TGV-Bahnhof. Er zeigt faszinierende Medientechnologien der Zukunft und bietet mehr als 25 Attraktionen, darunter 3D-Kinos, Wasserspiele und einen 45 Meter hohen Aussichtsturm. Auf jeden Fall einen Besuch wert … wenn man auf solche Attraktionen steht. Ich gehöre nicht dazu! Ich lasse den Park rechts liegen, Poitiers ruft!
Egal welchen Parkplatz man in Poitiers wählt, es ist immer ein langer und steiler Aufstieg auf den hohen Bergrücken, auf dem die schöne Stadt thront, um in die Altstadt zu gelangen. Oben angekommen ist das Zentrum erstaunlich überschaubar.
Im frühen Mittelalter war Poitiers eine Hochburg des Christentums. Poitiers ist voller charmanter Gassen und belebter Plätze, einladender Geschäfte, Restaurants und Straßencafés. Zahlreiche Fachwerk- und Patrizierhäuser säumen den Weg. Poitiers ist einfach schön! Hier kann ich stundenlang bei einem Glas Pastis sitzen, “mein” Frankreich betrachten und mich wohlfühlen.
Die Hauptsehenswürdigkeit des historischen Zentrums ist die Kirche Notre-Dame-la-Grande aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Eine Kirche im romanischen Stil mit einer prächtigen Fassade. Und einem wunderschönen Innenraum. Ich kann mich gar nicht satt sehen!
Die Fahrt von Poitiers nach Angoulême ist leider ziemlich langweilig. Die N10 führt vierspurig in Richtung Süden. Ausnahmslos alle am Weg liegenden Weiler und Städtchen werden umfahren. Gut für die Bewohner, aber uninteressant für meine nostalgische Suche. Die alte Strecke ist komplett in der Schnellstraße aufgegangen, nur zu ganz wenigen Orten gibt es noch Abfahrten. In der Nähe von Ruffec entdecke ich noch eine alte Tankstelle. Sie ist nicht mehr in Betrieb.
Durch alte Tankstellen am Wegesrand werde ich um Jahrzehnte zurückversetzt. Einige sind renoviert, andere verlassen oder sterben langsam vor sich hin. Die Tanks der Autos aus den glorreichen sechziger Jahren reichten von 20 Litern für einen 2 CV bis zu 50 Litern für einen Peugeot 404, ganz zu schweigen von über 60 Litern für Citroën DS und Simca Vedette. Die teilweise schwindelerregenden Verbrauchswerte machten die Tankstelle zu einem regelmäßigen Zwischenstopp auf der langen Reise.
Was wären die französischen Städte ohne ihre Kathedralen? Angoulême besitzt eine romanische Kathedrale aus dem 12. Jahrhundert, viele andere französische Städte haben gotische Kathedralen.
Aber Angoulême hat noch mehr zu bieten. Eine wunderschöne Altstadt mit mittelalterlichen Fachwerkhäusern in engen Gassen und hübschen Plätzen. Und Angoulême ist die Hauptstadt der Comics. Wer sich dafür interessiert, sollte unbedingt das Comic-Museum besuchen!
Die Zahl der Autos nahm in den 1950er Jahren stetig zu. Die Kapazität des Straßennetzes war erschöpft. 1956 wurde in Frankreich die dritte Ferienwoche eingeführt, die meisten Betriebe hatten geschlossen. Im August standen Tausende von Autofahrern auf den Hauptverkehrsadern im Stau. Die Radiosender berichteten von Unfallschwerpunkten, an denen sich der Verkehr besonders staute und die Urlauber auf ihrem Weg an den Atlantik aufhielten oder gar blockierten. Albträume für Autofahrer. Die Motoren der Autos überhitzten, die Fahrer waren gereizt.
Die Regierung versuchte, die Autofahrer dazu zu bewegen, ihre Abfahrten besser zu planen, um die Verkehrsströme zu verteilen. Die Werbekampagne, die dieses Ziel erreichen sollte, war ein sympathischer Indianer, der den Autofahrern den Weg weisen sollte: “Bison Futé”. Noch heute ist “Bison Futé” der nationale Verkehrsdienst.
Warum heißt es Bison futé? Das Maskottchen ist der kleine Indianer. Er gilt als klug und geschickt. Außerdem kennt er sein Revier genau und kann sich gut orientieren. Und warum Schlauer Bison? Der Bison ist stark, mutig und schlau!
Auf der Website Bison futé oder in der APP kann sich jeder über die Verkehrssituation auf Frankreichs Straßen informieren.
Hinter Angoulême biegt die Nationalstraße 10 nach Südwesten ab und nähert sich dem Atlantik, der nur noch 100 Kilometer entfernt ist. Die historische Straße ist unter der Autobahn begraben. Weinberge links und rechts der Straße sind allgegenwärtig, Ortsdurchfahrten gibt es kaum noch, die RN10 ist vierspurig und strebt auf Umgehungsstraßen nach Bordeaux. Aber ich muss noch die Dordogne und die Garonne überqueren. Die Dordogne ist hier fast 400 Meter breit und durch den nahen Zusammenfluss mit der Garonne von starken Strömungen geprägt.
Bordeaux ist einer der Höhepunkte dieser Reise. Eine bemerkenswert schöne Großstadt.
Ich reserviere einen Stellplatz auf dem Campingplatz Beausoleil südlich der Stadt und komme mit Bus und Tram in einer halben Stunde ins Zentrum. Mit dem Wohnmobil ein hoffnungsloses Unterfangen. Und … der Campingplatz liegt direkt an der ehemaligen Route Nationale 10!
Die Nationalstraße 10 führt hinter Bordeaux durch die Vororte der Großstadt. Supermärkte haben die Wiesen verdrängt, die früher die Straße säumten. Nur ein paar Häuschen sind geblieben.
Am Ortsausgang von Gradignan führt die N10 mitten durch ein ehemaliges Kloster. Zum Kloster Cayac gehörten eine Kirche und ein Friedhof, auf dem Pilger, die auf dem Weg nach Santiago de Compostela an Erschöpfung gestorben waren, ihre letzte Ruhestätte fanden.
Die Gebäude wurden durch durch den Schwerlastverkehr regelmäßig beschädigt. Leider ereigneten sich immer wieder schwerste Unfälle: Lastwagen kippten um, Reisebusse verunglückten, viele Tote waren zu beklagen.
Die Nationalstraße 10 gibt es in den Landes nicht mehr, sie verläuft jetzt unter der Autobahn, die seit 2013 streckenweise gebührenpflichtig ist. Aber mit jedem Kilometer komme ich dem Atlantik näher.
Um die historische Strecke zu finden und zu befahren, muss ich jede Autobahnaus- und -einfahrt nehmen, um zu den Dörfern und Städtchen zu gelangen, die vor 40 Jahren verlassen wurden.
1968 berichtete ein Fernsehteam über ein lokales Original aus Magescq an der Nationalstraße 10, das die meiste Zeit am Straßenrand stand und die vorbeifahrenden Autos beobachtete, während er Pullover, Schals und Handschuhe für Kunden aus der Umgebung strickte. Jahr für Jahr kamen Touristen zu ihm, um Strickwaren zu bestellen. Man erzählt sich, dass der junge Prinz Charles von England bei ihm einen Pullover bestellte, als er in Biarritz Urlaub machte. Ob der königliche Pullover jemals abgeholt wurde, ist nicht bekannt.
Und Alice, damals ein junges Mädchen, erinnert sich in der Dokumentation: “Der Verkehr war nicht so wie heute, und im Sommer gingen wir manchmal mit Freundinnen unter die Bäume zum Stricken, um die neuen Autos vorbeifahren zu sehen.
Nach etwa 100 Kilometern durch die Gegend des Fort Landaise nähert sich die Route Nationale 10 in einem flachen Winkel dem Atlantik. Das Meer ist nur noch wenige hundert Meter von der Straße entfernt. Das Baskenland liegt vor mir, auch wenn es noch rund 60 Kilometer sind – nicht unbedingt die leichtesten …
Die Fahrt über Bayonne, Anglet und Biarritz nach Saint-Jean-de-Luz ist zeitraubend und nervenaufreibend. Diese Städte sind zu einem einzigen Moloch zusammengewachsen. Der Verkehr ist schrecklich, damals wie heute. Die schönen Städte entschädigen kaum für die endlose Parkplatzsuche. Von der Nationalstraße 10 ist nichts mehr zu sehen. Wer es eilig hat, muss die nahe Autobahn nehmen.
Das Ende der Reise ist in greifbarer Nähe, die Nationale 10 erreicht das letzte französische Departement vor der spanischen Grenze. Die letzten 30 Kilometer sind auch die, welche von den Urlaubern am meisten herbeigesehnt wurden. Der Atlantik zeigt sich endlich von der Straße aus. Die Landschaft gehört zu den schönsten entlang der Route Nationalstraße 10.
Es ist die letzte Etappe, das Ende einer langen Reise. Mehr als 760 Kilometer stehen auf dem Tacho. Die N10 führt auf ihrem letzten Stück vor der spanischen Grenze durch atemberaubende Landschaften und Küstenabschnitte. Diese letzten Kilometer auf der N10 sind eine angemessene Belohnung für die lange Reise.
An der spanischen Grenze wird die Route Nationale 10 endgültig zur N-1, der Carretera Nacionale 1, die als spanisches Pendant bis nach Madrid führt oder einer der Ausgangspunkte für den Jakobsweg in Spanien ist. Aber das ist eine andere Geschichte.