Route Nationale 12 – Von Paris nach Brest
Ich habe eine neue Leidenschaft. Ich “sammle” Nationalstraßen. Französische Nationalstraßen. Ich folge ihnen und versuche, die manchmal längst verschwundenen Strecken, ihre Besonderheiten und ihre Veränderungen zu “erfahren” und zu erleben.
Ich tauche ein in die Geschichten und Erzählungen über diese Verbindungen zwischen Orten, die für manche mehr waren als nur eine Straße. Wie zum Beispiel für Victor Hugo. Der 19-Jährige kommt zu Fuß aus Paris, um in Dreux seine Verlobte Adèle zu suchen, die seine Familie von ihm fernhalten will.
Die Nationalstraßen sind auch ein Teil der Geschichte Frankreichs. Der Exodus während der Besatzungszeit, dann die Befreiung des Landes.
Die historische Nationalstraße 12 führt mich ins Land der Menhire … buchstäblich ans Ende der Welt! Von Paris bis ins Finistère sind es 618 Kilometer.
Wie alle Nationalstraßen in Frankreich hat auch die N12 ihren Ursprung auf dem Platz vor der Kathedrale Notre-Dame de Paris. Wo sonst? Bien sûr! Ein Schild auf dem Boden markiert den Nullpunkt der französischen Nationalstraßen. Leider trampeln die Touristen darüber hinweg, so dass es viel zu wenig beachtet wird. Aber die Markierung ist auch sehr klein und daher leicht zu übersehen.
Bei den Recherchen zu dieser Reise ist mir aufgefallen, dass die N12 eigentlich erst kurz hinter Paris beginnt, da sie bis zur Anschlussstelle Trappes der N10 folgt. Wie auch immer … ich beginne meine Reise in Paris, verlasse den Boulevard Périphérique (eine 8-spurige Ringautobahn, welche französischen Hauptstadt umschließt) an der Porte Saint-Cloud, nachdem ich, wie in Paris üblich, erst einmal im Stau stehe.
Die Streckenführung der N12 wurde mehrfach geändert. Sie wurde vierspurig ausgebaut, mehrfach zur Landstraße herabgestuft und wieder zur Nationalstraße aufgewertet. Ich folge (soweit noch möglich) dem Verlauf von 1963 (aus diesem Jahr stammt meine antiquarische Michelin-Straßenkarte). Die Nationalstraße 12 ist immer noch die Hauptverkehrsader, die die Bretagne zwischen Brest und Rennes mit Paris verbindet.
Und was ist aus der Nationalstraße 12 geworden? Ein Stückwerk, unterbrochen von Dutzenden von Umbenennungen in Departementstraßen, manchmal mit Fortführung der «12», z.B. «D 712», «D 912», «DN 12».
Ich will die N12 fahren, bevor alles verschwindet. Ich mache mich auf den Weg!
Nur die RN10 führt direkt ins Zentrum von Versailles, ich fahre auf der RN12 um die Stadt mit dem weltberühmten Schloss herum. Denn schon 1663 murrten die Einwohner von Versailles: “Der König hat die Hauptstraße in die Bretagne vor der Stadt umgeleitet, die Hoteliers und Gastwirte werden um den Gewinn betrogen, den sie mit den Reisenden gemacht hätten!”
Bei Houdan verlasse ich die vierspurige N12 und wechsle auf die alte Nationalstraße (hier D912). Das Sträßchen ist schmal, seitlich wuchert das Gras über den Asphalt. Auf den Wiesen liegt der Frühling, frisches Grün soweit das Auge reicht. Ein paar hübsche, hellbraun gefleckte Kühe schauen mich verwundert an. Hier kommt wohl nicht mehr so oft jemand vorbei.
Houdan war einst eine wichtige Station auf den historischen Straßen, wovon die authentischen Fachwerkfassaden der alten Gasthöfe aus dem 17. und 18. Jahrhundert zeugen. Und wer an einem Freitagmorgen vorbeikommt, kann einen hübschen kleinen Bauernmarkt besuchen.
Ein paar Kilometer auf der D912 und ich bin in Dreux. Ein hübsches, verschlafenes Städtchen. Ein Bummel durch den Ort ist schnell gemacht, eine hübsche Fußgängerzone, ein paar kleine Cafés, ein kleiner Marktplatz … und das war’s. Hier steht auch der weithin sichtbare Glockenturm der Stadt, der Beffroi.
In der Geschichte wechselte die Stadt mehrmals zwischen Frankreich, England und dem Herzogtum Bretagne. Erst durch die Heirat von Anne de Bretagne mit Ludwig XII. wurden die Stadt und die ganze Region fest an Frankreich gebunden.
Das bemerkenswerteste Bauwerk von Dreux ist aber die Königskapelle. Die Chapelle Royale de Dreux, auch Chapelle Royale Saint-Louis genannt, ist ein Mausoleum, eine Familiengrabstätte, die 1816 errichtet wurde. Mehrere Mitglieder der französischen Königsfamilie sind hier begraben.
In einem Dokument des Fremdenverkehrsamtes von Dreux aus dem Jahr 1939 heißt es: “80 km von Paris entfernt, an der malerischen Straße in die Bretagne, ist Dreux ein interessanter Zwischenstopp für Reisende aus Paris, die den Mont-Saint-Michel besuchen wollen. Das Straßennetz ist sorgfältig gepflegt und fast vollständig asphaltiert”.
Zwischen Dreux und Verneuil-sur-Avre ist von der alten N12 nichts mehr zu sehen. Sie wird von der neuen vierspurigen Straße überdeckt und führt schnurgerade nach Westen verläuft. Durch eine bezaubernde Landschaft. Sanfte Hügel mit frühlingsgrünem Gras, goldene Rapsfelder, darüber ein graublauer Aprilhimmel mit rasenden Wolken. Wunderschön!
Verneuil-sur-Avre ist eine typische französische Provinzstadt. Eine schöne mittelalterliche Stadt mit viel Charme. Ich bin in der Normandie angekommen. Ich wusste gar nicht, dass sie sich so weit nach Süden und Osten erstreckt. Schon die Römer waren hier. Und der Vorgänger der Route Nationale 12 war die Römerstraße in das Gebiet der stets aufständischen Gallier! Es macht Spaß, durch die Straßen, Gassen und Viertel zu schlendern, in einem Café habe ich meinen ersten Cidre getrunken.
Der hohe Turm der Kirche Sainte-Madeleine in Verneuil-sur-Avre ist kilometerweit sichtbar. Der Turm wurde Ende des 15. Jahrhunderts errichtet. Damals war er nur 15 Meter hoch, heute sind es 56.
Von der Kirche St. Jean sind leider nur noch Ruinen erhalten. Bei den Bombenangriffen der Alliierten im Jahre 1944 wurde sie zu einem großen Teil zerstört.
In der Patisserie “Aux Délices de la Tour” in Verneuil-sur-Avre kann man eine Spezialität kaufen: Pralinen mit Mandelsplittern. Eine Delikatesse, die man sich nicht entgehen lassen sollte! Ich muss davor warnen, diesen Laden zu betreten …
Und trotz des Aprilwetters mit Regen und Hagel, aber auch viel Sonne, sitze ich warm eingepackt in einem Straßencafé, trinke einen “Noisette”, beobachte und genieße das typisch französische Treiben um mich herum. Es geht mir gut …
Hinter Verneuil-sur-Avre ist die alte Route Nationale 12 nicht mehr zu finden. Eine vierspurige Schnellstraße führt nach Westen. Dafür ist die Landschaft grandios. Ich fahre durch ein Land der Komplementärfarben! Dunkelgrüne Wiesen, goldgelbe Rapsfelder, blauer Himmel, weiße Wolken. Es ist wunderschön!
Vor den Toren der Bretagne liegt das Städtchen Mayenne. Ein unspektakulärer Ort, klein, aber fein. Vor der Kathedrale ist heute Wochenmarkt und es gibt viel zu sehen und zu beobachten. Viele Häuser sind noch mit Holzschindeln gedeckt … so kenne ich das aus dem Schwarzwald.
Fougères ist nur ein paar Kilometer entfernt. Seit zwei Tagen sitze ich hier fest. Dauerregen, manchmal Hagel, eisiger Wind, Sturmböen. Immerhin ist der Stellplatz einigermaßen akzeptabel. In der Nähe gibt es eine kleine Brasserie und eine Bäckerei, wo ich mich kulinarisch über Wasser halten kann. Sonst wäre es deprimierend und trostlos. Und dann, am dritten Tag, ist das schlechte Wetter vorbei. Blauer Himmel bis zum Horizont.
Die Oberstadt von Fougères liegt auf einem steilen Felsvorsprung. Im Tal liegt die Burg aus dem 12. Jahrhundert, die als größte mittelalterliche Festung Europas gilt. Sie war an dieser Stelle von großer Bedeutung, da hier die Grenze zwischen der Bretagne und dem Gebiet der französischen Krone verlief.
Anfang 1944 wurde Fougères von den Engländern und Amerikanern schwer bombardiert. Das Stadtbild ist daher leider nicht mehr so mittelalterlich wie die Umgebung der Burg.
Ich habe mich schweren Herzens entschieden, nicht nach Rennes zu fahren. Leider sind dort in den nächsten Tagen schwere Ausschreitungen zu befürchten (Monsieur Macron hat beschlossen, das Rentenalter der Franzosen von 62 auf 64 Jahre anzuheben), der Mob ist aktiv. Ich unterstütze jede gewaltfreie Demonstration, für oder gegen was auch immer. Dass dabei, wie in der vergangenen Nacht, mehrere Autos in Brand gesetzt werden, ist der Sache nicht dienlich. Meine Stellplatznachbarn haben mich eindringlich davor gewarnt, als Ausländer nach Rennes zu fahren.
Abgesehen davon habe ich schon mehrfach versucht, mich dieser Stadt touristisch zu nähern, leider immer mit mäßigem Erfolg. So hält sich mein Bedauern in Grenzen.
Ich habe das Meer erreicht! In Saint-Brieuc erreicht die Route Nationale 12 bei Kilometer 416 die Hauptstadt der Côtes d’Armor. Rund um die Kathedrale Saint-Etienne stehen hübsche, mittelalterliche Fachwerkhäuser aus dem 15. Jahrhundert.
Als ich von meinem Stadtrundgang zum Wohnmobil zurückkehre, stelle ich fest, dass ich in der Nähe mehrerer abgefackelter Mülltonnen geparkt habe. Hätte ich das vorher gesehen, hätte ich mir sicher einen anderen Parkplatz gesucht. Scheint eine ziemlich übles Viertel zu sein.
Von Saint-Brieuc bis Guingamp ist die RN12 eine vierspurige Autobahn. Die “alte” Nationalstraße verläuft jedoch mehr oder weniger parallel als D712. Eine kleine, schmale Straße, die kaum noch befahren wird. Eingerahmt von grünen Wiesen oder leuchtenden Rapsblütenfeldern. Im Frühling ist es hier wunderschön.
Ich höre alte französische Lieder. Jacques Dutronc, Michel Polnareff, France Gall, Jacques Brel oder Charles Aznavour. Lieder, die ich kenne, seit ich Ende der 60er Jahre als Austauschschüler in Frankreich war. Ich fühle mich wie 17! Na ja…
Mein Spaziergang durch die Straßen von Guingamp führt mich zurück ins Mittelalter. Im Gegensatz zu den Küstenorten sind die Touristenströme in Guingamp überschaubar. Der charmante Ort selbst geizt zwar mit den ganz großen Sehenswürdigkeiten, aber Guingamp ist auf jeden Fall einen Besuch wert.
Auf dem Weg nach Morlaix wechsle ich wieder auf die D712, die “alte Nationale 12”. Ich höre Musik: französische Chansons. Der Tempomat ist auf 60 km/h eingestellt (was niemanden stört, da ich praktisch allein auf der Straße bin). So fahre ich durch mein geliebtes Frankreich mit seinen kleinen Weilern, Dörfern und Städten und grandiosen Landschaften. Aber die Bewohner sind sicher froh, dass der Verkehr ein paar hundert Meter weiter auf der vierspurigen N12 und nicht mehr mitten durchs Dorf rauscht.
Und dann ist da noch eine der alten Fernfahrerraststätten “Resto-Routier”, erstaunlicherweise an der alten Nationalstraße und nicht an der Autobahn. Es ist kurz vor Mittag, der Parkplatz ist schon fast voll mit 40-Tonnern. Ich lasse mir die Gelegenheit nicht entgehen, günstig zu Mittag zu essen. Es gibt ein komplettes Menü mit Wein und Kaffee. Alles inklusive.
Und so sitze ich an einem Tisch mit acht sehr kräftigen Fernfahrern, keiner der riesen Kerle sagt etwas. Nur ein kurzes “Bonjour” und “Bon appétit”. Etwas schüchtern sitze ich dazwischen. Auf Tuchfühlung. Als ich gehe, wünsche ich allen noch “Bonne Route”, die Köpfe gehen hoch, wer ist hier der Störenfried, der die Ruhe stört! Übrigens: Keiner der Fernfahrer hat auch nur einen Schluck Alkohol zum Essen getrunken!
Das Stadtbild von Morlaix wird von einem gewaltigen Viadukt geprägt. Seit über 150 Jahren ist dieses Kunstwerk das Wahrzeichen der Stadt. Heute überquert der TGV auf der Strecke Paris-Brest das Bauwerk. Vom Viadukt aus bietet sich ein atemberaubender Blick über den Hafen, das Stadtzentrum und die Dächer von Morlaix. Um auf das Viadukt zu gelangen, ist allerdings ein schweißtreibender Aufstieg über viele Gassen und Treppen notwendig.
Bei meinem Rundgang durch Morlaix kann ich die in der Bretagne einzigartigen „Maisons à Pondalez” mit ihren Kaminen und Treppen bewundern. Daneben gibt es auch Stadthäuser aus Schiefer und Granit.
Brest, die Hauptstadt des Départements Finistère, hat im Zweiten Weltkrieg besonders gelitten. Die Altstadt wurde vollständig zerstört. Hunderte von Gebäuden und die Hafenanlagen wurden in Schutt und Asche gelegt.
Nach den verheerenden Bombenangriffen wurde die alte Bausubstanz weitgehend durch Neubauten ersetzt, so dass Brest wie eine seelenlose Stadt vom Reißbrett wirkt. Einen Stadtkern, den man als „Altstadt“ bezeichnen könnte, gibt es in Brest nicht mehr.
Die Lebensader von Brest ist eine unglaublich lange Hauptstraße – eine breite, kilometerlange Fußgängerzone mit Grünstreifen und Straßenbahnschienen. Und sehr attraktiven Geschäften, Boutiquen und Restaurants. Für mich neben dem Château das Sehenswerteste der Stadt. Und natürlich der Blick auf den Hafen, den zweitgrößten Militärhafen Frankreichs.
Über das Hafenbecken von Brest verbindet eine Seilbahn die beiden Ufer, leider war sie bei meinem Besuch vor einigen Jahren wegen Reparaturarbeiten außer Betrieb. Heute fährt die Seilbahn und ich will mir das Vergnügen gönnen, ein paar Mal hin und her zu fahren. Preisbewusst kaufe ich mir am Automaten gleich eine Tageskarte! Ich steige in die Kabine, die Türen schließen sich … die Türen öffnen sich wieder … und eine freundliche Stimme verkündet aus den Lautsprechern: “Mesdames et Messieurs. Leider hat die Bahn einen Defekt, der Betrieb ist für heute eingestellt!” Und da stehe ich nun mit meiner Tageskarte. Schade. Wäre bestimmt “cool” gewesen.
Schließlich hat Brest doch noch eine Attraktion zu bieten: Océanopolis, die größte touristische Einrichtung der Bretagne. Ein mehrere Millionen Liter fassendes Schauaquarium. Der Eintritt ist nicht ganz billig, aber für Aquaristik- und Naturliebhaber auf jeden Fall einen Besuch wert.
Und hier endet meine Reise auf der Route Nationale 12 von Paris nach Brest. Ich bin meiner alten Landkarte gefolgt, bin durch eine eindrucksvolle und abwechslungsreiche Landschaft mit schönen Städtchen und liebenswerten Menschen gefahren und habe das Land und die Sehenswürdigkeiten genossen.