Route Nationale 7 – Teil II
Von Lyon nach Menton
Die Route Nationale 7 von Paris nach Menton ist eine Straße und eine Reise in die Vergangenheit. Heute kann man über die Autobahnen A6, A7 und A8 schnell und problemlos in den Süden fahren. Doch wer den südlichen Teil der Route Nationale 7 entlang der Rhône hinunterfährt, erlebt eine Postkartenidylle mit Lavendel- und Thymianfeldern. Durch Weinberge, Olivenhaine, Platanen- und Zypressenalleen.
Die N7 ist längst zu einer Nebenstraße geworden. Aber sie ist immer noch ein Synonym für Urlaub, Ferien und Meer. Sie wurde auch Route des vacances, Route bleue und – wegen der vielen Verkehrsunfälle – sarkastisch Route de la Mort genannt. Und die Franzosen sind überzeugt, dass die Route Nationale 7, eine fast tausend Kilometer lange zweispurige Straße von der Hauptstadt Paris bis zur azurblauen Côte d’Azur, von großem kulturhistorischen Wert ist.
Noch im vergangenen Jahrhundert war die N7 die Lebensader Frankreichs. Tag für Tag nutzte sich der Asphalt unter dem Gewicht der unzähligen Lastwagen ab, die mit Lebensmitteln beladen von Süden nach Norden und wieder zurück fuhren. Doch einmal im Jahr verwandelte sich die legendäre N7 in die verheißungsvollste Straße des Landes. Dank des bezahlten Urlaubs sind Millionen Franzosen zum ersten Mal in Massen in den Süden gereist.
Die Blütezeit der N7 endete abrupt mit dem Bau der Autobahn A7. Die einst so belebte Strecke ist verfallen und man kann nur noch mit Wehmut auf ihre Blütezeit zurückblicken. Doch gerade dieser verblasste Glanz macht sie zur idealen Route, um die gute alte Zeit noch einmal zu erleben. Und für Liebhaber der Verfallsromantik ist die N7 eine nostalgische Attraktion. Und gerade dieser verblasste Glanz macht sie zu einer der charaktervollsten Routen Südfrankreichs.
1984 verschwand die Route Nationale 7 offiziell aus dem Stadtzentrum von Lyon. Hinter Lyon verschwindet die alte Trasse der N7 sogar auf meiner Michelin-Straßenkarte von 1970 für einige Kilometer und ist kaum noch zu finden. Erst in Feyzin, einem hübschen Städtchen im Speckgürtel von Lyon, sind die Wegweiser wieder mit dem roten Zusatz “N7” versehen und es geht schnurstracks nach Süden.
Die schmale, zweispurige Route Nationale führt durch eine überraschend hügelige Landschaft, steile Anstiege und rasante Abfahrten wechseln sich ab. Und so mancher Zweitakter dürfte dabei an seine technischen Grenzen gestoßen sein. Die Werkstätten entlang der Strecke werden immer zahlreicher! Sogar eine ehemalige “Simca-Werkstatt” liegt am Wegesrand.
Von einem Hügel aus bietet sich mir der erste Blick auf Vienne. Die Stadt liegt zwischen der Rhône und einer schroffen Berglandschaft. Ab hier werden die römischen Denkmäler immer präsenter. Schließlich war die N7 ursprünglich die römische Verbindungsstraße von Gallien nach Rom.
Das markanteste Bauwerk von Vienne ist der Tempel des Augustus und der Livia aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. In seinem Schatten lasse ich bei einem Glas Pastis den bisherigen Verlauf meiner Reise Revue passieren: alles ist gut! Das Monument steht mitten auf einem kleinen Platz im historischen Zentrum, umgeben von kleinen Straßencafés und Restaurants. Frankreich pur!
Jeden Samstagvormittag findet im Stadtzentrum von Vienne der zweitgrößte Markt Frankreichs statt. Auf einer Länge von mehr als 5 km werden zahlreiche regionale Produkte angeboten! Ein Paradies für Feinschmecker und “Sammler”!
Bei Vienne führt die Nationalstraße hinunter zur Rhône , um nach wenigen Kilometern wieder ins Landesinnere zu führen, eng, bergig und in steilen Kurven. Wer es eilig hat, nimmt besser die Autobahn A7.
Nur wenige Kilometer hinter Vienne, in Chonas-l’Amballan, liegt das legendäre Hotel 500. “500” bedeutet 500 Kilometer von Paris entfernt. Eine Etappe auf der Nationalstraße 7. 1959 wurde das Motel eröffnet, das einem amerikanischen Motel aus den 50er Jahren nachempfunden ist. Auf halbem Weg zwischen Paris und der Côte d’Azur bietet das Motel, das damals noch “Km 500” hieß, geräumige Zimmer mit Bad und direktem Zugang zum Auto. Bis heute.
Kurz vor Pont-de-l’Isère parken einige Oldtimer-Lkw vor einer Raststätte. Immer wieder sehe ich Oldtimer auf der N7 fahren. Ob sie etwas mit der historischen Straße zu tun haben, weiß ich nicht. Akribisch restauriertealte Autos. Oft “stilecht” mit Lederkoffer auf der hinteren Motorhaube und Ledermütze auf dem Kopf des Fahrers. Magnifique!
Ich bin in Pont-de-l’Isère auf dem 45. Breitengrad unserer Erde angekommen. Der Duft des Südens! Und der Akzent der Franzosen ändert sich. Ich habe zwar nicht den singenden Akzent des Midi, aber es fällt schon auf, dass sich die Betonung der Worte “Vin” oder “Pain” zu “Veng” und “Peng” verändert.
Lange haben die Franzosen darüber diskutiert, wo der “Midi”, der Süden Frankreichs, eigentlich beginnt. Jetzt ist die Frage geklärt. Genau hier, am 45. Breitengrad in Pont-de-l’Isère, liegt die unsichtbare Grenze!
Ich bin also im Midi angekommen. Das ganze Gebiet zwischen Vienne und Pont-de-l’Isère ist bekannt für seine reichen Obstgärten, vor allem für die Produktion von Pfirsichen, Aprikosen und Kirschen. Und so fahre ich stundenlang durch riesige Pfirsichplantagen, höre französische Schlager der 60er und 70er Jahre von meinem USB-Stick und finde: Ich habe es gut!
Ich erreiche Valence und seine Vororte. Die N7 ist jetzt überall gut ausgeschildert, noch in Betrieb, viel befahren und stark frequentiert. Valence, Tor nach Südfrankreich und Hauptstadt des Départements Drôme, ist eine charmante Stadt im Rhônetal. Ein bisschen mondän, sympathisch, gastfreundlich.
Valence war einer der Engpässe auf der Urlaubsroute. Die Durchquerung der Stadt war schwierig und mühsam. Die N7 führte mitten durch die Stadt und durch die schmale Rue Victor Hugo.
Aber ein Spaziergang durch die Innenstadt und ein Stopp auf dem lokalen Markt in der Nähe der Kathedrale ist an einem Samstagvormittag ein wahres Vergnügen. Der lokale Markt ist wie ein Querschnitt durch eine Stadt. Er findet meist auf kleinen, typischen Plätzen statt. Beim Schlendern durch die vielen Stände lerne ich die Menschen kennen, ihr Lächeln und die Geschäftstüchtigkeit der Händler.
Von Valence aus führt die N7 in die Provence. Es wäre schade, wenn man durch zu schnelles Fahren die kleinen Details verpassen würde, die den Reiz der durchfahrenen Städte und Dörfer ausmachen. In Livron-sur-Drôme lohnt es sich, vor einem monumentalen Wandbild zu verweilen. Und in Loriol-sur-Drôme sind die prächtig bemalten Mauern nicht zu übersehen.
Montélimar liegt vor mir. Ein übermannsgroßer Kilometerstein begrüßt mich schon weit vor der hübschen Stadt. Montélimar, das Nougatparadies, produziert jährlich 3000 Tonnen dieser Köstlichkeit aus Zucker, Honig, Mandeln und Eiern, eine nationale Delikatesse. Auf Fotos aus den 60er Jahren, als die Verkehrsstaus das Zentrum verstopften, sieht man Nougatverkäufer am Straßenrand, die die Süßigkeit direkt an die Urlauber in den Autos verkauften.
Es gibt viel Verkehr und die Durchfahrt durch Montélimar ist beschwerlich. Damals brauchte man manchmal drei Stunden, um Montélimar zu durchqueren. Und die Autofahrer haben sich nicht beschwert, weil es keine andere Ausweichstrecke gab.
Im “Palais du Bonbon et du Nougat” ist ein Teil der Ausstellung der N7 gewidmet. Ganz nett anzuschauen … aber insgesamt lohnt sich der hohe Eintrittspreis eher weniger (vor allem nicht für Kinder).
In Piolenc ist die Enttäuschung groß. Das “Musée Mémoire de la Nationale 7” ist geschlossen. Einfach so. Für immer! Nachdem das Museum aufgrund der Corona-Beschränkungen bis März 2022 geschlossen war, wurde es danach überhaupt nicht mehr geöffnet. An dem alten Gebäude wurden bereits umfangreiche Renovierungs- und Umbauarbeiten durchgeführt, nur der überdimensionale Kilometerstein, der ursprünglich auf dem Dach des Museums stand, ist noch am Straßenrand zu sehen. Ich hatte mich so darauf gefreut, diese einzigartige Sammlung zu besuchen, aber leider habe ich wegen ein paar Wochen alles verpasst. “Quelle malchance!
Orange besitzt zwei bemerkenswerte antike Bauwerke. Das erste, der Triumphbogen, befindet sich in der Mitte eines Kreisverkehrs am Ortseingang von Orange. Das zweite, das römische Theater, wurde unter Kaiser Augustus erbaut, ist sehr gut erhalten, mit einer erstaunlichen Bühnenwand und einer wunderbaren Akustik. Die “alte” N7 führt noch heute mitten durch die Stadt und direkt am Theater vorbei.
Übrigens: Der Markt in Orange ist einer der größten im ganzen Vaucluse. Jeden Donnerstag kann man hier in typisch provenzalischer Atmosphäre an den Marktständen entlang schlendern und so manche Köstlichkeit erstehen.
Es ist heiß. Unbeschreiblich heiß. Heute über 32 Grad, gestern 30 Grad und die nächsten Tage werden noch heißer. Und das Anfang Juni! Aber es gibt mir ein authentisches Gefühl dafür, wie anstrengend es damals gewesen sein muss, auf der N7 in den Süden zu fahren. Bei dieser Hitze im Stau zu stehen! Kein Lüftchen weht, die Kinder quengeln, “Papa” ist genervt und müde vom Fahren, “Maman” beschwichtigt und versucht für gute Stimmung zu sorgen. Und das ersehnte Ziel, das Meer, ist noch Stunden entfernt. Mühsam werden auf der meist zweispurigen Straße ein paar Lastwagen überholt und wenn die halsbrecherischen Manöver glücklich überstanden sind, muss eines der Kinder dringend auf die Toilette und “Papa” kann sich wieder hinter den zuvor überholten Lastwagen einreihen. Ich drehe erst mal meine Klimaanlage ein paar Grad kälter, denn bei diesen Vorstellungen komme ich kräftig ins Schwitzen.
Avignon, eine der fünf größten Städte der Provence, ist geprägt von prächtigen mittelalterlichen Häusern, verträumten Plätzen und Gassen, einer imposanten Stadtmauer, einer weltberühmten Brücke und natürlich dem Papstpalast. Der Palast der Päpste, ein UNESCO-Weltkulturerbe, ist ein imposanter Klotz, dessen wahre Ausmaße sich erst bei einer Besichtigung erschließen. Das größte gotische Bauwerk der Stadt wirkt von außen wie eine Festung, während das Innere eher an eine mittelalterliche Burg oder ein Kloster erinnert.
In Avignon ist die N7 nicht mehr zu finden, die moderne Verkehrsplanung hat die Straße verbannt. Ob die neue Straßenführung sinnvoller ist, sei dahingestellt. Ich finde die Beschilderung unübersichtlich und chaotisch. Also fahre ich einfach mal Richtung Südosten und treffe tatsächlich nach wenigen Kilometern wieder auf die N7. Glück gehabt!
In Sénas steht am Ortsausgang auf einem staubigen Platz das Kirchlein “Notre Dame de Bon Voyage”. Ähnlich wie die Kapelle in Fontenay sur Loing soll sie den Durchreisenden einen Ort der Besinnung bieten. Entweder kurz vor der Ankunft am Urlaubsort oder wieder vor der Rückfahrt Richtung Lyon oder Paris. Leider ist die Kapelle geschlossen. Ich hätte gerne einen Moment innegehalten, um meine Reise Revue passieren zu lassen oder ein wenig zu meditieren. Einen Moment innehalten.
Ich erreiche Aix-en-Provence. In der Luft liegt der Duft von Calissons, der Spezialität der Stadt, einem Gebäck aus Mandeln und kandierten Früchten.
Aix ist eine sehr junge Stadt. Etwa ein Drittel der Einwohner sind Studenten. Entsprechend quirlig geht es im Zentrum zu: viele Radfahrer, viele Mopeds und viele Jugendliche vor der prunkvollen Fontaine de la Rotonde.
Hinter Aix-en-Provence folgt die N7 den Bergen der Provence. Durch verschlafene Städtchen, vorbei an Felsabstürzen oder Lavendelfeldern führt die alte Trasse der Nationalstraße 7 durch eine überraschend hügelige, fast gebirgige Landschaft.
Ich höre wieder meine auf USB-Stick mitgebrachten französischen Chansons. Gilbert Bécaud singt von der verschenkten Rose in “L’important c’est la rose”, Charles Trenet besingt die Schönheit des Meeres in “La Mer”, Alain Barrière schmachtet sein “Tu t’en vas” und Salvatore Adamo sieht der alten Frau beim Füttern der Spatzen zu. “La vieille, l’idole et les oiseaux”. Und ich fühle mich “sauwohl”!
Die kleine Stadt Saint-Maximin-la-Sainte-Baume besitzt das größte gotische Bauwerk der Provence! Leider wurde die Kirche nie vollendet, nicht einmal das Portal und der Glockenturm wurden errichtet. Trotzdem ist das Bauwerk sehr imposant und sehenswert.
Ich könnte in Le Muy rechts abbiegen und den direkten Weg ans Meer nach St. Tropez nehmen. Aber ich widerstehe der Versuchung, denn erst bei Fréjus berührt die historische N7 zum ersten Mal das Mittelmeer. Das erste Ziel einer langen, beschwerlichen Autofahrt ist erreicht. Und hier begann der frühe Massentourismus. Die Promenade schlängelt sich am Ufer entlang, auf der anderen Straßenseite reiht sich Hotel an Hotel, Restaurant an Restaurant.
Die N7 verbindet Saint-Raphaël mit der Corniche de l’Estérel. Dieser Abschnitt trägt den Beinamen „Die schönste Straße Frankreichs“.
Die Route Nationale 7 führt über Cannes und Nizza nach Menton und macht einen Bogen um Monaco. In Cannes flanieren die Spaziergänger auf dem Boulevard de la Croisette, in Nizza die Jugendlichen auf der Promenade des Anglais. Man muss sich den nicht enden wollenden Strom der Urlauber vorstellen, die sich über den für so viel Verkehr viel zu schmalen Asphalt wälzen, das Hupen der Autos, die Beschimpfungen der genervten Autofahrer, so kurz vor dem Ziel.
Ohne die verklärende Brille des “N7-Fahrers” sind diese Städte ein Band von Betonburgen. Die französische Mittelmeerküste ist längst keine liebliche Idylle mehr. Die Küste ist zugepflastert mit Apartmenthäuser als Kapitalanlage.
Die alte Hafenstadt Menton belohnt die weitgereisten “Pilger”, die hier nach fast 1000 Kilometern ankommen, mit einer wunderschönen Kulisse. Das Stadtbild ist fast italienisch. Mein Ziel ist der Hafen von Menton und ein letztes Foto zur Erinnerung. Die Straße selbst führt mitten durch das Stadtzentrum. Hinter dem Grenzübergang Corniaud ist Italien und meine Reise zu Ende. Große Zufriedenheit erfüllt mich.
In Menton überkommt mich Wehmut. Das Ende der N7, eine gelungene Reise. Ich habe die berühmten und die berüchtigten Etappen gesehen, die Tankstellen, die Raststätten, die billigen Fernfahrerkneipen „Les Routiers“. Die Engpässe der Ortsdurchfahrten, die regelmäßig zu Staus führten. Die Steigungen und Gefälle, die den Kleinwagen zu schaffen machten.
Bin ich am Ziel angekommen? Der Weg war das Ziel, die Sehnsucht und das Versprechen. Und wie sang schon Charles Trenet: “On est heureux Nationale sept”.