Route Nationale 89 – Von Bordeaux nach Lyon
Ich liebe die alten französischen Nationalstraßen. Die alten Michelin-Schilder, die verblassten Wandreklamen an den Häuserfassaden und alles andere, was den Charme der Straßen von damals ausmacht. Einst waren sie das königliche, dann das kaiserliche Verkehrsnetz Frankreichs. Jede erzählt auf ihre Weise ein Stück Geschichte. Frankreich von seinen Straßen aus gesehen!
Die Weinberge des Bordeaux und die rauen Berge der Auvergne bilden einen starken Kontrast auf dieser Reise, die mich auch durch die wilde Corrèze und das sanfte Périgord führen wird.
Seit 2006 existiert die N89 nur noch auf kurzen Abschnitten, da parallel die Autobahn A89 gebaut wurde. Die ehemalige 560 Kilometer lange N89 wurde zu einer Landstraße herabgestuft.
In den 1960er Jahren, zu Beginn des allgemeinen Automobilverkehrs, schüttelten die Menschen etwas ungläubig den Kopf, wenn man ihnen vorschlug, die Nationalstraße 89 zu benutzen. Steigungen, die dem Motor alles abverlangten, endlose Kurven, dazu die Ortsdurchfahrten, die keine erholsame Fahrt versprachen.
Und was ist aus der Nationalstraße 89 geworden? Ein Stückwerk, unterbrochen von Dutzenden von Umbenennungen in Departementstraßen, manchmal mit der Fortführung der “89”, z.B. “D1089”, “D389”.
Bevor alles endgültig verschwindet, will ich noch einmal diese französischen Nationalstraßen befahren. Aus Nostalgie!
Ich beginne meine Reise im Zentrum von Bordeaux. Das ist etwas ungewöhnlich für eine Reise entlang einer französischen Nationalstraße, denn fast alle Routes Nationales haben ihren Nullpunkt in Paris auf dem Platz vor der Kathedrale Notre Dame.
Bordeaux ist einer der Höhepunkte dieser Reise. Eine bemerkenswert schöne Großstadt. Mit eleganten Straßen, kleinen Gassen und Innenhöfen. Mit vielen Cafés und Restaurants und hübschen Geschäften. Und viel Trubel!
Die Route Nationale 89 beginnt in Bordeaux an der Kreuzung mit der Route Nationale 10 und verlässt die Stadt auf ihrer direkten Verlängerung, der Autobahn A89. Durch die endlosen, manchmal tristen Vororte einer Großstadt. Baumärkte, Supermärkte und Fast-Food-Restaurants wechseln sich ab. Immerhin trägt die Straße für kurze Zeit den schönen Namen „Avenue du Périgord“. Hier beginnen 541 Kilometer zwischen Bordeaux und Lyon auf der “Grande Route Centrale”.
Je näher ich Saint-Émilion komme, desto mehr verändert sich die Landschaft. Aus den grauen Vororten von Bordeaux werden liebliche Weinberge voller reifer Trauben. Ich befinde mich mitten im weltberühmten Weinbaugebiet der Bordelaise, dem größten zusammenhängende Anbaugebiet der Welt.
Es ist Ende September. Einige Winzer beginnen mit der Weinlese. Die Straßen sind verstopft von Traktoren, die ihre kostbare Fracht zum “Château” bringen. Erstaunlich, wie viele kleine Bauernhöfe hier zum “Château” werden, wenn es darum geht, den eigenen Wein zu vermarkten.
Der Legende nach wurde Saint-Émilion im 11. Jahrhundert von einem Mönch gegründet, der dort in einer Höhle Zuflucht fand. Heute ist Saint-Émilion der bekannteste und von Touristen aus aller Welt meistbesuchte Ort des Bordelais.
Wer Zeit für einen Besuch in Saint-Émilion hat, kann die Grotte des Mönchs Émilion besichtigen. Sie ist die größte unterirdische Kirche Europas und wurde vor dem Jahr 1000 in den Fels gehauen. Eine Führung durch Saint-Émilion ist sehr interessant und empfehlenswert.
Und auch wer gerne Süßes ist, ist hier genau richtig. Hier werden die Saint-Émilion-Makronen zubereitet, eine Feinschmeckerspezialität des Städtchens. Hergestellt nur aus süßen und bitteren Mandeln, frischem Eiweiß und Zucker. Und sie schmecken verboten gut!
Ich bleibe im Weinbaugebiet Saint-Émilion, die N89 (hier als D1089) führt mich weiter durch schier endlose Weinberge. Dunkles Grün, darüber ein blauer Himmel mit schneeweißen Wolken. Wunderschön!
Die ehemalige Nationalstraße ist noch gut befahren, denn die angrenzende Autobahn A89 ist gebührenpflichtig.
Am Zusammenfluss von Dordogne und Isle erreiche ich Libourne, eine mittelalterliche Stadt, die 1270 von den Engländern als Verteidigungsbollwerk gegründet wurde. Ein verschlafenes Städtchen. Nur der quadratische Stadtplatz mit seinen schlanken Arkaden und ein kleiner Teil eines Befestigungsturms wecken mein Interesse.
Mich zieht es weiter. Das Périgord lockt. Immer entlang der Isle, vorbei an der hübschen, aber leider vernachlässigten Kirche von Sourzac, gelange ich in die für mich schönste Gegend Frankreichs. Wenn es irgendwo ein Paradies gibt, dann sieht es für mich so aus wie das Périgord! Auf diesen Streckenabschnitt habe ich mich besonders gefreut.
Sanfte Hügel und Täler mit Kastanienbäumen, Tabakfeldern, Obstgärten, grüne Wiesen mit hübschen Kühen. Viele kleine und große Bäche durchziehen das Land. Endlose Eichenwälder säumen meinen Weg. Ein wahres Paradies!
Schon im 12. Jahrhundert war Périgueux eine der wichtigsten Etappen auf dem französischen Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Die Altstadt rund um die Kathedrale ist UNESCO Weltkulturerbe.
Beim Bummel durch die Gassen, Plätze und Hinterhöfe entdecke ich mittelalterliche Fachwerkhäuser, die vom einstigen Reichtum der Stadt zeugen. Und auch kulinarisch werde ich in Périgueux regelrecht verwöhnt!
Es ist ein Mittwoch als ich in Périgueux ankomme. Und das ist kein Zufall, denn ich weiß, dass immer an diesem Wochentag rund um die Kathedrale und in den Gassen der Altstadt ein wunderschöner Wochenmarkt stattfindet. Für mich ist das, neben dem Wochenmarkt in Sarlat (immer samstags), der schönste Markt im Périgord.
Die Route Nationale 89 verlässt hinter Périgueux das Tal der Isle. Die Gegend ist nicht mehr so grün wie im “Grünen Périgord “, dem “Périgord Vert”. Die Landschaft wird rauer, karger und die Straßen enger, kurviger und steiler. Die ersten Ausläufer des Zentralmassivs sind erreicht. Parallel zur Straße verläuft die Autobahn A89. Diese ist mautpflichtig, so dass noch ein erheblicher Verkehr auf der N89 (D1089) stattfindet.
Deshalb gibt es an der Straße immer noch einige der Fernfahrergaststätten “Les Routiers”. Meist sind es keine besonders schönen Restaurants, sondern zweckmäßig. Wenn zur Mittagszeit LKWs und Handwerkerfahrzeuge vor einem Lokal parken, manchmal mitten im Nirgendwo, gibt es meist ein schmackhaftes und preiswertes Mittagsmenü. Meist 3 Gänge, manchmal sind ein Viertel Wein und ein Espresso im Preis enthalten. Große kulinarische Überraschungen darf man hier nicht erwarten (obwohl ich auch schon welche erlebt habe), aber das Essen ist reichlich, es geht schnell, man kennt sich. Und manchmal ergeben sich interessante Gespräche, auch wenn die freundlichen Fernfahrer meist nicht so gesprächig sind.
Vorbei an ehemaligen Kohlebergwerken und Papierfabriken erreiche ich Terrasson-Lavilledieu. Hier überquerte einst die “Grande Route Centrale” die Vézère über die “Pont Vieux” aus dem 11. Jahrhundert.
Terrasson-Lavilledieu ist ein beschauliches Städtchen, dessen Charme sich mir erst auf den zweiten Blick erschließt. Erst als ich nach einem anstrengenden Aufstieg die Altstadt erreiche, zeigt sich die Vielfalt der mittelalterlichen Stadt. Rund um ein Kloster entstand einst der Ort. Und sie war ein strategisch wichtiger Durchgangs- und Knotenpunkt für den Warentransport auf der Vézère.
Ich bin in der Corrèze angekommen, einer hügeligen Landschaft mit vielen Flüssen und Seen. Im Süden des Zentralmassivs liegt diese grüne Landschaft. Die N89 ist von Alleen gesäumt, der Verkehr spielt sich hauptsächlich auf der nahen Autobahn ab. So kann ich mit Tempomat und 60 km/h durch die Gegend fahren, ohne jemanden zu stören, wunderbar kitschige Chansons und französische Schlager hören und mich einfach wohl fühlen. Herrlich!
In Brive-la-Gaillarde kreuzen sich die Nationalstraße N89 und die Nationalstraße N20. Ich habe auch die Nationalstraße N20 befahren, die von Paris nach Andorra und nach Spanien führt.
Mein Spaziergang durch Brive-la-Gaillarde ist kurzweilig und interessant. In Brive-la-Gaillarde gibt es einen kleinen Platz, der nach dem Chansonnier Georges Brassens benannt ist. Er verewigte Brive-la-Gaillarde in einem seinerzeit sehr erfolgreichen Chanson: Hécatombe au Marché de Brive-la-Gaillarde.
Ich bleibe im Tal der Corrèze, nach Tulle ist es nur ein Katzensprung. Tulle ist eine lang gestreckte Kleinstadt am Fluss. Vom Ortsschild bis ins Zentrum sind es fast drei Kilometer.
In steilen Serpentinen verlässt die N89 Tulle und steigt auf fast 800 Meter an. Ein Reiseführer aus dem Jahre 1848 beschreibt diesen Abschnitt wenig einladend: „Vielleicht gibt es in Frankreich kein dunkleres und verlasseneres Land als die 60 Kilometer lange Steppe, die Tulle von dem Städtchen Ussel trennt. Rechts und links erblickt man nur kahle Sümpfe, und traurig schweift der Blick über diese unermesslichen Heideflächen, die unbewohnt scheinen und deren melancholische Eintönigkeit nur in langen Abständen durch einige vom Wind gepeitschte Baumgruppen unterbrochen wird…”.
Doch ganz so traurig empfinde ich diesen Streckenabschnitt nicht. Es ist ein wunderschöner Herbsttag, die Sonne scheint, kein Wölkchen am Himmel. Und das hübsche Städtchen Égletons bietet eine schöne Abwechslung auf der Fahrt Richtung Ussel.
Aber ich kann mir auch vorstellen, dass jemand, der an einem grauen, regnerischen Novembertag hier entlang fährt, trübsinnig werden kann. Auch die vielen verlassenen Restaurants und Tankstellen entlang der alten N89 trüben die Stimmung. Die Nähe zur A89 macht sich hier negativ bemerkbar. Der Großteil des Verkehrs spielt sich auf der nahen Autobahn ab, die hier mautfrei ist.
Ussel ist ein hübsches Städtchen, vielleicht ein bisschen langweilig. Ein bisschen grau, ein bisschen unordentlich. Die schwarzen Schieferdächer erinnern schon an die nahe Auvergne. Aber … Ussel hat einen der schönsten Wohnmobilstellplätze, die ich kenne! Der Verkehr durch die zentrale Avenue-Victor-Hugo ist furchtbar. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es war, als es noch keine Autobahn gab und die N89 den ganzen Verkehr mitten durch die Stadt führte.
Hinter Ussel verlasse ich die Corrèze und erreiche die Auvergne und damit das Zentrum des Zentralmassivs. Die alte N89 wird nun immer schmaler und kurviger, Serpentinen und kleine Pässe sind zu bewältigen. Vorbei an Bourg-Lastic und Rochefort-Montagne fahre ich an einem herrlichen, sonnigen Herbstmorgen Richtung Clermont-Ferrand, die Vulkankette der Puys und den Gipfel des Puy de Dôme immer fest im Blick.
Bourg-Lastic hat ein schönes romanisches Kirchlein und hier entdecke ich den ersten alten Wegweiser aus emaillierten Lavaplatten, der erstaunlich gut erhalten ist.
Der Puy de Dôme ist mit 1465 Metern der höchste Vulkan des Puys-Massivs und das Wahrzeichen der Auvergne. Er liegt im Herzen des Zentralmassivs, etwa 15 km von Clermont-Ferrand entfernt und gehört zu den Vulkangipfeln der Dôme.
Früher konnte man tatsächlich noch auf der schmalen Straße bis zum Gipfel fahren. Heute geht das nur noch zu Fuß. Ich ziehe die Fahrt mit der Zahnradbahn vor! Der Ticketkauf ist schnell erledigt und die Fahrt zum Gipfel dauert keine 20 Minuten. Ich bin froh, dass ich zwei Pullover und eine dicke Jacke angezogen habe, denn hier oben ist es “saukalt”. Aber es ist wunderschön! Unter mir der Morgennebel, über mir die strahlende Herbstsonne.
Nach Clermont-Ferrand geht es von den Höhen der Dôme steil, sehr steil bergab. Motorbremsen ist angesagt. Ich halte den gesamten Berufsverkehr auf, aber sicher ist sicher! In Clermont-Ferrand ist einer der Park&Ride-Plätze auch für Wohnmobile ausgelegt, und nicht wie so oft mit Höhenbegrenzungen versperrt. Die Straßenbahn in die Innenstadt fährt alle 5 Minuten direkt vom Platz ab. Wer sich vom Lärm der Stadt nicht stören lässt, kann hier auch über Nacht bleiben.
Die Hauptsehenswürdigkeit von Clermont-Ferrand ist die Kathedrale Notre-Dame de l’Assomption. Ganz aus schwarzem Lavagestein der Auvergne erbaut, thront sie über der Altstadt.
In Clermont-Ferrand lebte ein früher Pionier der Reifen und sogar der Straßenkarten: Edouard Michelin. Nachdem er eine bankrotte Fabrik für Landmaschinen und Gummiprodukte aufgekauft hatte, entwickelte er abnehmbare Reifen für Fahrräder und später auch für Automobile. Straßenkarten für Fahrräder und Autos folgten. Um die Karten sinnvoll nutzen zu können, stiftete er unzählige Straßenschilder und Wegweiser.
Die Schleifsteine der Messerschmiede von Thiers konnten mit dem Wasser der Durolle angetrieben werden. Das machte die Stadt reich. Noch heute ist die Messerindustrie sehr aktiv. Als ich mich Thiers nähere, sehe ich schon weit vor der Stadt die großen Werbetafeln der Messerhersteller. Im 19. Jahrhundert lebte die ganze Region davon. Heute verfallen die vielen Fabriken, aber die Stadt hat sich ihres industriellen Erbes angenommen.
Der Weg zur Altstadt von Thiers führt steil bergauf. Einst eine mittelalterliche Festung die von einer Stadtmauer umgeben war. Und sogar schon von den Römern gegründet. Ein Spaziergang durch die steilen Gassen und Treppen der Altstadt mit ihren schönen Fachwerkfassaden und Erkern ist beeindruckend. Aber sehr anstrengend …
Über Noirétable, Feurs und L’Arbresle nähere ich mich dem Ziel der N89. Ich durchquere einige lebhafte Marktflecken, bevor die Straße bei Feurs ins Tal der Loire abfällt. Noch weit vor der Mündung in den Atlantik hat der Fluss gewaltige Ausmaße. An diesem Abschnitt wird deutlich, wie wichtig der Bau der Autobahn A89 aus verkehrstechnischer Sicht war. Die schmale N89 war dem modernen Verkehr einfach nicht mehr gewachsen.
Hinter Feurs und Sainte-Foy-l’Argentière führt die N89 in Richtung L’Arbresle. Die Straße schlängelt sich zwischen den Bergen des östlichen Zentralmassivs hindurch. Ich muss einige kleine Pässe überqueren, die aber alle gut 1000 Meter hoch sind. Ich kann mir gut vorstellen, wie sich in den 60er Jahren ein Simca 1000, ein Renault R4 oder eine Renault Dauphine auf dem Weg nach Bordeaux mühsam nach oben quälten. Und dann mit überhitztem Motor am Straßenrand liegen blieben.
Ich bin früh morgens unterwegs, kein Verkehr, himmlische Ruhe, es ist paradiesisch schön. In steilen Serpentinen mit teilweise bis zu 14% Gefälle geht es hinunter ins Rhônetal nach Lyon.
Dicht an dicht stehen die Autos am Straßenrand. Hier beginnen die Weinberge des Rhônetals. Die Weinlese hat begonnen. Viele Menschen arbeiten zwischen den Rebstöcken, die reifen Trauben werden schonend von Hand geerntet.
In Lyon, der immer wieder schönen Stadt an Rhône und Saône, endet meine Reise. Eine der schönsten Großstädte, die ich kenne. Selbst in dieser Großstadt kann ich mittelalterliches Kopfsteinpflaster, Fachwerkhäuser und enge Gassen bewundern. Typisch für Lyon sind die geheimen Gänge und Höfe, die die Häuser miteinander verbinden. Ich genieße die Pausen bei einem Espresso oder Pastis in den kleinen Cafés an den romantischen Plätzen der Altstadt.
Und so gilt auch für diese Reise: Der Weg war das Ziel. “Ich steige nicht auf einen Gipfel, um oben zu sein, sondern um hinaufzusteigen. Oben ist das Ende”.