Route Nationale 9 – Von Moulins nach Spanien
Die Route Nationale 9 ist vielleicht eine der schönsten Straßen Frankreichs. Und wäre da nicht meine geliebte Route Nationale 7, wäre sie vielleicht sogar meine Lieblingsfernstraße. Im Eröffnungsjahr 1959 waren es 591 Kilometer kurvenreiche Asphaltstrecke von Moulins in Zentralfrankreich nach Le Perthus an der spanischen Grenze. Eine Route wie geschaffen für die Poesie vergangener Zeiten. Mit tiefen Schluchten, engen Passstraßen und herrlichen Landschaften. Und mit viel Nostalgie.
Die Straße von Moulins zu den östlichen Pyrenäen und nach Spanien auf der Trasse der historischen N9 ist relativ neu. In der Antike gab es keine direkte Nord-Süd-Verbindung durch die Auvergne. Fast alle Nationalstraßen Frankreichs folgen zumindest in Nord-Süd-Richtung den Römerstraßen. Lediglich die Verbindung von Le Puy über die Cevennen nach Nîmes verband Paris mit dem westlichen Mittelmeer. Die “Histoire d’Auvergne” berichtet sogar, dass es zu Beginn des 18. Jahrhunderts nur eine einzige Straße von Paris nach Clermont-Ferrand gab.
Noch 1845 war die N9 in der Lozère durch eine 16,2 km lange Lücke unterbrochen. Die Planung und der Bau der Straße, die durch teilweise sehr gebirgiges und abgelegenes Gelände führte, erforderte straßenbautechnische Meisterleistungen.
Wer auf der N7 von Paris kommt, muss die Route Nationale 7 in Moulins verlassen, um auf die N9 zu gelangen. Die N7 führt weiter entlang des Allier in Richtung Lyon, die N9 geht nach der Überquerung der Brücke über den Allier in Richtung Clermont-Ferrand und weiter nach Spanien.
Eine der großen architektonischen Leistungen des 18. Jahrhunderts beim Bau der ersten Nationalstraße war die Brücke von Moulins über den Allier. Die Aufgabe war äußerst schwierig, da der breite Fluss auf sandigem Untergrund fließt und bis dahin keine festen Fundamente gebaut werden konnten. Sieben Brücken waren zuvor von den Fluten weggerissen worden. Die Brücke über den Allier war auch die Demarkationslinie, die Frankreich im Zweiten Weltkrieg in zwei Hälften teilte. Der Norden mit der Hauptstadt Paris stand unter deutscher Besatzung, der unbesetzte Süden mit der Hauptstadt Vichy unter französischer Verwaltung.
Schon von weitem kündigen die Türme der Kathedrale Moulins an. Die Stadt ist nach den zahlreichen Mühlen am Allier benannt. Hier wurde das Getreide der Region verarbeitet und konnte bequem per Schiff transportiert werden.
In Moulins gibt es viel zu entdecken. Die Kathedrale Notre-Dame, den Donjon de la Mal Coiffée, der mächtige Bergfried des alten Schlosses, das historische Zentrum mit seinen malerischen Fachwerkhäusern, die stattlichen Stadthäuser aus rosa Backstein oder die Gassen und Treppen hinunter zum Allier.
Bevor ich Moulins verlasse, muss ich dem Grand Café einen Besuch abstatten. Es wurde 1898 erbaut und seine Innenarchitektur ist repräsentativ für den Neo-Rokoko-Stil des späten 19. Jahrhunderts. Es ist herrlich, hier zu sitzen, seinen Morgenkaffee zu trinken, ein leckeres frisches Croissant dazu zu essen, zu schauen und zu staunen. Die gute alte Zeit …
Fast alle französischen Nationalstraßen beginnen in Paris. Auf dem Platz vor der Kathedrale Notre Dame befindet sich eine kleine Markierung im Boden, von der aus alle Straßen Frankreichs kartographiert sind. Die N9 hingegen beginnt an der Kreuzung der N7 mit der Brücke über den Allier in Moulins und führt nach Clermont-Ferrand, Millau, Béziers, Narbonne und Perpignan, um an der spanischen Grenze zu enden. Der große Vorteil der Strecke, durch landschaftlich wunderschöne Gegenden Frankreichs zu führen, ist gleichzeitig ihr Nachteil. Die Streckenführung ist kompliziert, hinter Clermont-Ferrand gibt es kein gerades Straßenstück mehr, Kurven reihen sich aneinander, es geht ständig bergauf und bergab.
Das machte den Autofahrern in den 60er und 70er Jahren zu schaffen. Die Autos wurden stark beansprucht, überhitzte Kühler oder heiße Bremsen zwangen oft zu unfreiwilligen Fahrtunterbrechungen. Und auch die Zahl der Werkstätten und Pannendienste entlang der Strecke war beachtlich.
Auf einer langen Geraden verlässt die N9 Moulins. Bei herrlichem Wetter fahre ich in den Frühsommer. Aber die “Schafskälte” ist noch nicht vorbei. Es ist kalt geworden.
Die Straße führt schnurgerade nach Süden. Fast 30 Kilometer lang keine nennenswerte Kurve, keine Abwechslung. Immer entlang der Sioule. Das Gebiet ist von Weideland geprägt. Hier werden große Herden von Charolais-Rindern gehalten. Das satte Grün der Wiesen, der blaue Himmel und die weißen Wolken bilden eine wunderbare Komposition. Am Straßenrand blüht rot der Mohn. Traumhaft.
Das Städtchen Saint-Pourçain-sur-Sioule ist von Moulins nach kurzer Zeit erreicht. Der Ort ist schnell durchstreift, aber die Kirche Sainte-Croix ist einen Besuch wert. Selten habe ich in Frankreich ein Kirchendach gesehen, das nicht aus Stein, sondern aus Holz gebaut ist. Und das Kirchenschiff ist seltsam krumm und schief. Und es gibt sehr merkwürdige Steinfiguren zu bewundern …
Genau 50 Kilometer vom Ausgangspunkt der N9 entfernt liegt eines der legendären Hotels an der Nationalstraße 9 “Les 50 Bornes”. Das kleine Hotel ist längst geschlossen, es wird nicht mehr benutzt. In den Anfängen des Automobiltourismus mussten lange Strecken in mehreren Etappen zurückgelegt werden. Übernachtungen wurden von den Urlaubern eingeplant. Heute kann man Spanien in einem Tag auf der Autobahn erreichen. Das kleine Hotel mit seinen wenigen und winzigen Zimmern fiel, wie so viele Hotels, Gaststätten und Tankstellen, dem Bau der Autobahnen und Schnellstraßen zum Opfer.
Die N9 ist Richtung Gannat in einem schlechten Zustand. Viele Baustellen machen meine Fahrt sehr beschwerlich und kosten viel Zeit. Aber das scheint nichts Neues zu sein. Bereits 1929 stellte die Straßenbaubehörde fest: “Die Straße Nr. 9 von Moulins nach Clermont-Ferrand und Perpignan ist immer stark befahren, im Sommer zusätzlich durch zahlreiche Touristen auf dem Weg in die Auvergne oder nach Spanien. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens und der schlechten Instandhaltung ist die Straße oft unpassierbar”.
Kurz vor Gannat, etwas abseits der N9, liegt das Viaduc de Rouzat, eine Eisenbahnbrücke über die Sioule. Gustave Eiffel wurde 1869 mit dem Bau des 180m langen und 50m hohen Viadukts beauftragt, seine “Handschrift” ist auch für mich als Laie gut zu erkennen. Die Pfeiler erinnern mich an den Eiffelturm in Paris. Seit 1965 steht das beeindruckende Bauwerk unter Denkmalschutz.
Ich fahre durch reizvolle Dörfer mit Kopfsteinpflasterstraßen und Backsteinhäusern. Hier ist die Zeit stehen geblieben. In der Ferne taucht die “Chaîne des Puys” auf, die vulkanische Bergkette des französischen Zentralmassivs. Bis in die Auvergne ist es nicht mehr weit.
Nach einer langen Geraden kündigt sich Gannat an. Das Städtchen hat sein mittelalterliches Aussehen bewahrt, mein Rundgang ist kurz, es gibt nicht viel zu sehen. Alles ist ein bisschen “Maghreb”. Sogar die einzige Patisserie in der Innenstadt hat geschlossen. Was ist das für eine Stadt, die ohne Kuchen, feines Zuckergebäck und Naschereien auskommt?
Riom ist eine elegante, vielleicht etwas strenge Stadt, erbaut aus dem dunklen Lavagestein der Auvergne. Leider steht sie im Schatten des nahen Clermont-Ferrand. Dennoch hat sich die Stadt, die auf einem Felsvorsprung über dem Tal liegt, ihren Charme bewahrt. Schöne Arkaden laden zum Bummeln ein, das Rathaus und die Sainte-Chapelle sind einen Besuch wert.
Ich sitze in einem Café und beobachte das Leben um mich herum. Es ist wie in einem Theater. Die Stadt ist die Bühne, die Passanten sind Haupt- und Nebendarsteller, die Szenerie ändert sich ständig. Viele Komödien, Gott sei Dank keine Dramen. So könnte ich stundenlang sitzen und schauen und genießen …
Von Riom aus ist Clermont-Ferrand in weniger als einer Viertelstunde zu erreichen. Durch die ausgedehnten Industrie- und Gewerbegebiete ist man schnell am Stadtrand. Wer Clermont-Ferrand mit dem Wohnmobil besucht, sollte den Wohnmobil- und P&R-Platz in der Peripherie der Stadt ansteuern. Von hier aus fährt die Straßenbahn, die in Clermont-Ferrand nur auf einer Schiene, dafür aber mit Gummireifen fährt, ins Zentrum. Wie könnte es in der Stadt der Michelin-Reifen auch anders sein.
Die Hauptsehenswürdigkeit von Clermont-Ferrand ist die Kathedrale Notre-Dame de l’Assomption. Ganz aus schwarzem Lavagestein der Auvergne erbaut, thront sie auf dem Gipfel des Hügels, der die Altstadt bildet. Es dauerte sieben Jahrhunderte, bis die Kirche mit langen Unterbrechungen fertiggestellt war. Erst 1866 erhielt die Kathedrale ihre beiden Türme. Besonders beeindruckend sind die bunten Glasfenster aus dem 12. und 15. Jahrhundert.
Nicht nur die gotische Kathedrale von Clermont-Ferrand ist sehenswert, mindestens ebenso imposant ist die romanische Kirche Notre-Dame-de-Port. Die kleine Kirche befand sich einst auf dem französischen Teil des Jakobsweges nach Santiago de Compostela. Ein schöner, leider stark beschädigter Tympanon und malerische Kapitellskulpturen sind hier zu bewundern. Ich genieße es, hier zu sein, denn nur wenige Schritte von den Touristenströmen entfernt, finde ich eine wunderbare Ruhe und Besinnlichkeit.
Die Kirche ist seit dem Mittelalter eine bedeutende Marien- und Wallfahrtskirche. Mehrere hundert Votivtafeln in der Krypta neben der Marienstatue erzählen von Glaube und Hoffnung. Die Inschriften sind Ausdruck der Volksfrömmigkeit und des Gottvertrauens der Menschen.
In Clermont-Ferrand lebte ein früher Pionier der Auto- und Fahrradreifen und sogar der Straßenkarten: Edouard Michelin. Nachdem er eine bankrotte Fabrik für Landmaschinen und Gummiprodukte aufgekauft hatte, entwickelte er abnehmbare Reifen für Fahrräder und später auch für Automobile. Straßenkarten für Fahrräder und Autos folgten. Um die Karten sinnvoll nutzen zu können, stiftete er unzählige Straßenschilder und Wegweiser. Ich freue mich immer, wenn ich am Straßenrand noch eines dieser selten gewordenen Exemplare entdecke.
Diese Erfindungen von Michelin sollten den Straßenverkehr nachhaltig prägen: Straßenkarten, Reiseführer, Restaurantführer, Verkehrsschilder, Beschilderungen aller Art – und heute natürlich Internetseiten!
Die Suche nach dem Weg nach Issoire ist nicht einfach. Von der N9 ist nichts mehr übrig. Alles ist unter der Autobahn A75 begraben. Erst einige Kilometer hinter Clermont-Ferrand gehen die Reste der Nationalstraße in eine Landstraße über. Und hier werde ich gleich mehrfach fündig: historische Wegweiser der N9 aus Metall oder Emaille!
Entlang der Vulkankette der Auvergne fahre ich nach Süden. Ein letzter Blick zurück bei Sonnenuntergang bietet ein zauberhaftes Bild der Chaîne des Puys und auf den Puy de Dôme, den höchsten Berg der Vulkankette.
Am Fuße der vulkanischen Ausläufer der Auvergne liegt Issoire, das sonnige Tor zum Süden. Heute sind das Meer oder die Pyrenäen über die mautfreie Autobahn A75 in wenigen Stunden zu erreichen. Zu den Hochzeiten der N9 quälte sich der Verkehr in einem langen, trägen Stau mitten durch die Stadt. So mancher Autofahrer wird dabei das Juwel von Issoire übersehen haben: die Abtei Saint-Austremoine.
Das bemerkenswerte romanische Bauwerk, die Abteikirche Saint-Austremoine aus dem 12. Jahrhundert, gehört für mich zu den schönsten Kirchen Frankreichs. Geschmückt mit Mosaiken, Skulpturen und Gemälden ist sie einzigartig. Und wunderschön!
Die beeindruckende farbige Ausmalung mit romanischen Ornamenten und Symbolen erhielt die Kirche erst bei Restaurierungsarbeiten im 19. Jahrhundert. Dies wurde zunächst heftig kritisiert. Im Mittelalter waren jedoch die meisten Kirchen bunt ausgemalt oder mit eindrucksvollen Wandreliefs verziert.
Das historische Zentrum von Issoire wurde größtenteils aus dem blau-ockergelben Volvic-Stein der Region erbaut. Ein Bummel durch die mediterran anmutende Stadt mit ihren engen Gassen und Plätzen, dem imposanten Uhrturm und den zahlreichen Stadthäusern aus dem 15. Jahrhundert ist ein Vergnügen. Ein Glas Pastis in einem kleinen Café … Lebensfreude.
Ab Issoire scheint die N9 fast vollständig von der Autobahn A75 verschwunden zu sein. Doch schon kurz nach der Stadtgrenze finde ich die D909 als einfache Landstraße wieder, die sich entlang dunkelgrüner Weiden mit hübschen Kühen und weiten Getreidefeldern schlängelt. Kurve reiht sich an Kurve, ein ständiges Auf und Ab.
In Le Basbory, einem kleinen, verlassen wirkenden Dorf, steht noch eines der berühmten, aber geschlossenen Hotels aus der Blütezeit der N9, das “Hôtel des Pêcheurs”. Le Basbory ist ein hübscher kleiner Ort, der von einer imposanten Burgruine überragt wird. Doch wie vielen anderen Orten entlang der stillgelegten Nationalstraßen erging es auch Le Basbory. Mit dem Ausbleiben der Autofahrer verschwanden auch die Geschäfte, Hotels und Tankstellen mussten schließen. Die Alten harrten noch eine Weile aus, die Jungen zogen in die Städte.
Ich verlasse Le Basbory und fahre entlang der Schlucht des Alagnon in Richtung Massiac und in die “Berge”. Das Sträßchen wird enger und schmaler. Hier steigt die N9 bis zum höchsten Punkt, dem Pass “Col de la Fageole” auf 1114 m an.
Die Silhouette der Kapelle Sainte-Madeleine, die das gesamte Tal des Alagnon überragt, kündigt nach steiler Abfahrt das Städtchen Massiac an. Ein Durchgangsort mit einigen kleinen Geschäften und Restaurants. Direkt an der N9 gibt es eine kleine Bäckerei, die die berühmten “Macarons de Massiac”, eine Spezialität aus Haselnüssen, herstellt. Wer süßes Gebäck mag, sollte hier unbedingt Halt machen und die Köstlichkeiten probieren.
Am Ortsausgang von Massiac sehe ich zum ersten Mal auf meiner Reise einen Wegweiser mit dem roten Schild “N9”. Die historische Route Nationale scheint noch nicht ganz in Vergessenheit geraten zu sein.
Hinter Massiac verlasse ich das Tal des Alagnon und erklimme das Plateau de la Margeride. Die Strecke ist steil und kurvenreich. Die Autobahn A75, die die N9 fast vollständig ersetzt hat, immer im Blickfeld. Da die Autobahn mautfrei ist, hat sich der Verkehr komplett auf die Schnellstraße verlagert. Auf der alten N9 fahre ich mutterseelenallein, störe niemanden mit meinem langsamen Tempo und kann in aller Ruhe meine französischen Chansons und französischen Schlager der 70er Jahre vom USB-Stick genießen.
Von den Höhen des Cantal erblicke ich zum ersten Mal die Silhouette von Saint-Flour. In steilen Serpentinen geht es hinunter in die Unterstadt von Saint-Flour, über eine mittelalterliche Brücke wieder hinauf in die historische Oberstadt, die auf einem Felsvorsprung etwa 100 Meter über dem steilen Abgrund liegt.
Saint-Flour ist ein typischer Touristenort am Rande der Auvergne. Viele kleine Läden, meist mit etwas kitschigen Auslagen oder den für die Region typischen Schafwollprodukten und die kleinen Restaurants mit den üblichen Touristenmenüs finde ich nicht besonders einladend. Mein Stadtbummel fällt kurz aus. Ein eisiger Wind pfeift mir um die Ohren. Auf fast 1000 Metern Höhe kann es auch Mitte Juni noch richtig kalt sein.
Ein kühnes Bauwerk ist kurz nach Saint-Flour zu besichtigen. Das “Viadukt von Garabit” über die Truyère-Schlucht wurde 1884 von Gustave Eiffel fertiggestellt. Damals galt das Viadukt mit einer Eisenbahntrasse als das schönste Bauwerk der Welt und als Meisterwerk seiner Ingenieurskunst. Die N9 unterquert das Viadukt in einer kühnen Kurve und erklimmt dann die Höhen des Aubrac, eine Kulturlandschaft auf über 1000 Metern Höhe. Und wohl auch die einsamste und eintönigste Gegend, die ich in Frankreich kenne.
Der Aubrac ist eine fast baumlose, wellige Hochebene aus Granit und Basalt, die an eine Prärie erinnert. Mir fallen dazu immer verschiedene Geschichten und Szenen meines geschätzten Abenteuerschriftstellers Karl May ein. Und die Strapazen der Jakobspilger auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela, die unter sengender Sonne oder peitschendem Regen und eisigem Sturm die endlose Ebene in Richtung Le Puy durchqueren müssen.
Während der Fahrt durch die wenigen kleinen Ortschaften merke ich, dass ich langsam den Süden erreiche. Die Ortsdurchfahrten sind gesäumt von mächtigen Platanen, die Dorfplätze belebt von Einheimischen, die auf den Terrassen der Cafés sitzen, ihren Kaffee oder Pastis genießen und Zeitung lesen. Das ist die perfekte Gelegenheit für eine Kaffeepause. Ich lasse den bisherigen Verlauf meiner Reise an mir vorbeiziehen. Alles ist gut…
Südlich von Aumont-Aubrac finde ich ein vollständig erhaltenes Teilstück der historischen N9 (heute D253). Ein winziges, fast einspuriges Sträßchen Und tatsächlich, in Le Moulinet stehen noch alte Wegweiser. Unversehrt und noch gut lesbar.
Die alte N9 schlängelt sich weiter bergauf und bergab durch das stimmungsvolle Lot-Tal. Auf der kurvenreichen und engen Straße im engen Tal war das Überholen schon immer eine Herausforderung. Leider kam es hier immer wieder zu schweren Verkehrsunfällen. Die Abfahrt von den Hochebenen ins Tal des Tarn nach Millau ist mit bis zu 9% Steigung auf fast 12 km Länge anspruchsvoll und eine Herausforderung für die Bremsen. Weniger heute als in der Vergangenheit, als die Autos noch nicht auf dem Stand der Technik waren wie heute.
Mein Bummel durch Millau fällt kurz aus. Mich zieht es zum Viadukt von Millau und zum “Pas de l’Escalette”. Einem der Höhepunkte meiner Reise.
Mit einer Länge von 2460 Metern und einer Höhe von 343 Metern überspannt das Autobahnviadukt von Millau elegant das Tal des Tarn. Eine technische Meisterleistung und ein ästhetischer Augenschmaus. Die Schrägseilbrücke mit sieben Pylonen fügt sich harmonisch in die Landschaft ein. Von der Autobahnraststätte Cazalous bietet sich ein einzigartiger Blick auf die Brücke. Für die Einwohner von Millau ist sie ein Segen, denn bisher quälte sich der gesamte Verkehr durch die enge Altstadt. Und ohne die Brücke wäre Millau wahrscheinlich nicht so bekannt, wie es heute der Fall ist, und nur eine kleine Stadt in der Provinz, wie so viele andere auch.
Einer der spektakulärsten Abschnitte der N9 beginnt kurz hinter Millau. Damals wie heute. Nur ist dieser Teil der historischen Straße schon lange nicht mehr befahrbar. Heute verläuft die N9 als Autobahn A75 in einem langen Straßentunnel. Ich stehe direkt darüber auf der Passhöhe.
Um 1861 beschloss man, das Mittelgebirge entlang der steilen und schroffen Kalkwände über einen gewagten Pass, den “Pas de l’Escalette”, zu überqueren. Eine ausgebaute Straße sollte den Gebirgspfad ersetzen, die 11 Kilometer der Route Impériale Nr. 9 sollten gebaut werden. Mehrmals wurde der Bau wegen ausufernder Kosten unterbrochen und wieder aufgenommen. Erst die Erfindung des Dynamits ermöglichte die Realisierung des Projekts! Der von Alfred Nobel erfundene Sprengstoff wurde hier zum ersten Mal in Frankreich im Straßenbau eingesetzt.
Heute ist das Bankett der Straße an einigen Stellen in die Schlucht gestürzt. Die Leitplanken wurden versetzt, damit man nicht zu nahe an die instabile Kante kommt. Dann verschwindet der Asphalt ganz, als ich den Ausgang des Escalette-Tunnels in Höhe der Autobahn erreiche. Ein Zaun hindert mich am Weitergehen. Von einer Straße ist ohnehin fast nichts mehr zu sehen. Auf dem brüchigen Asphalt wachsen Blumen und Bäume…
Heute führt die A75 in einem elegant geschwungenen Tunnel durch das Gebirge, an dessen Ende die Straße abrupt das südliche Ende der Causse erreicht.
Über Lodève, Clermont-l’Hérault und Pézenas fahre ich weiter nach Süden. Mit jedem Kilometer wird die Gegend mediterraner, längst bin ich im “Midi” angekommen. Die N9 verwandelt sich in eine typisch südfranzösische Allee mit mächtigen, alten Platanen. Ab und zu muss ich auf die Autobahn A75 ausweichen, da die alte N9 teilweise komplett unter der Autobahn begraben ist.
Béziers wird von der Kathedrale Saint-Nazaire überragt. Zusammen mit der alten römischen Brücke über den Orb ergibt sich ein malerisches Stadtbild. Fast wie eine Burg steht die Kirche über dem steilen Abhang der Orb Ebene.
Béziers ist eine der ältesten Städte Europas. Die ersten Funde im Stadtgebiet sind über 3000 Jahre alt. Die Besiedlung der Region soll sogar schon vor 6000 Jahren stattgefunden haben. Und die Via Domitia, die erste Straße, die die Römer im 1. Jahrhundert v. Chr. in Gallien bauten, führt noch heute vom Ufer des Orb hinauf in die Stadt bis zur römischen Arena.
Anfang des 13. Jahrhunderts erlebte Béziers eine seiner größten Tragödien. Nach der Eroberung der Stadt durch die Kreuzritter des Albigenser Kreuzzuges wurde am 22. Juli 1209 fast die gesamte Bevölkerung ermordet. Die Albigenser (Katharer) waren eine Laienbewegung, die christliche und weltliche Lehren verband, in Armut und Bescheidenheit lebte und so auch einfache Bevölkerungsschichten erreichte. Man verweigerte den päpstlichen Kreuzrittern die Namen der “Ketzer”. Daraufhin wurde die Stadt geplündert und ihre Bewohner niedergemetzelt.
Béziers ist bekannt für seine reich verzierten Balkongeländer und seine interessanten Wandmalereien. Beides kann man bei einem Spaziergang durch die Stadt an vielen Häusern entdecken.
In Béziers beginnt der Canal du Midi, ein Meisterwerk aus dem 17. Jahrhundert des Ingenieurs Pierre-Paul Riquet. Seine Idee, das Wasser aus den nahen Ausläufern des Zentralmassivs, der Montagne Noir, aufzufangen und in den Kanal zu leiten, ermöglichte die ständige Wasserversorgung des Kanals. Durch die Verbindung der Garonne, also dem Atlantik, mit dem Mittelmeer wurde der Handel zwischen den beiden Meeren entwickelt und gesichert. Béziers erlebte seine Blütezeit. Heute findet auf dem Kanal kaum noch Frachtverkehr statt. Aber viele kleine Hausboote und Ausflugsschiffe sind ständig auf dem Kanal unterwegs und bieten ein buntes Bild.
In Fonseranes, in der Nähe von Béziers, beginnt der Kanal mit einer Wassertreppe aus 9 Schleusen, die es den Schiffen ermöglicht, auf einer Länge von 300 m einen Höhenunterschied von 21 m zu überwinden.
Ich bin früh dran, um mir die Schleusentreppe anzusehen. Ein kleines Restaurant am Ende der Schleuse hat schon geöffnet. Von hier aus habe ich einen wunderbaren Blick auf die Kathedrale von Béziers. Ein fast mystisches Licht umgibt den Bergsporn, der Morgennebel taucht die Landschaft in zarte Aquarellfarben. Wie schön, hier zu sein.
In Narbonne und Perpignan gibt es die N9 nicht mehr. In den großen Städten hat die städtische Verkehrsplanung andere Prioritäten. Und ich bin froh, dem Trubel der Großstädte schnell wieder zu entkommen.
Es sind nur noch wenige Kilometer bis zum Ziel. Le Perthus und die Pyrenäen rufen. In einer Scharte der hier schon beachtlich hohen Pyrenäen liegt auf nur 290 Metern der Passübergang nach Spanien.
Die Hauptstraße durch den Ort ist gleichzeitig die Grenze zwischen Frankreich und Spanien. Der Bürgersteig und die vielen Geschäfte auf der einen Seite gehören zu Spanien, die Fahrbahn zu Frankreich. Zigaretten und Alkohol kann man hier zollfrei kaufen. Dementsprechend groß ist der Andrang. Ich hatte mir ein beschauliches Städtchen mit Grenzübergang erhofft. Der Trubel kommt unerwartet und ist lästig. Den beschaulichen Abschluss dieser Reise hatte ich mir ganz anders vorgestellt.
Von Moulins aus habe ich etwa 590 Kilometer zurückgelegt, 877 km wären es von Paris aus gewesen..
Auf der anderen Seite, in Katalonien, führt die französische N9 als Nationalstraße N-II, die ehemals längste Fernstraße Spaniens, weiter über Barcelona nach Madrid. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich beende meine Reise entlang der Route Nationale 9 in Argelès-sur-Mer. Viele Urlauber, die auf der N9 unterwegs waren, haben hier im größten Badeort der Region ihre Ferien verbracht. Erinnerungen werden wach…